Der Gerichtshof der Europäischen Union, Garant für die Wahrung des Unionsrechts
- Der Gerichtshof der Europäischen Union ist eines der sieben europäischen Organe.
- Als Rechtsprechungsorgan der Union hat er zur Aufgabe, die Wahrung des Unionsrechts zu sichern, indem er für eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Verträge sorgt und die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union überwacht.
- Mit seiner Rechtsprechung trägt er zum Schutz der Werte der Union und zum europäischen Aufbauwerk bei.
- Der Gerichtshof der Europäischen Union besteht aus zwei Gerichten: dem Gerichtshof und dem Gericht.
Vorwort des Präsidenten
Bilder von Opfern und Zerstörungen, die uns erschaudern lassen und die wir auf dem europäischen Kontinent nie wieder zu sehen hofften, erinnern uns daran, dass Frieden und Freiheit Werte sind, die keineswegs für immer und ewig gesichert sind, so „selbstverständlich“ sie für diejenigen, die dem europäischen Projekt dienen, auch erscheinen mögen.

Koen Lenaerts
Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union
Das Jahr 2022 stand im Zeichen des 70. Jahrestags des Gerichtshofs der Europäischen Union. Aus diesem Anlass bekommt der Jahresbericht des Unionsorgans ein neues Gesicht. Ohne Abstriche bei der Qualität der Informationen wird der Überblick über die wichtigsten Entwicklungen, die bei dem Unionsorgan und in seiner Rechtsprechung zu verzeichnen sind, in einer knapperen Form und einem direkteren Stil dargeboten, um ihn für möglichst viele Menschen leichter zugänglich zu machen.
Nach zwei aufgrund der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie sehr schwierigen Jahren war 2022 dadurch geprägt, dass das Unionsorgan wieder zu seiner normalen Arbeitsweise zurückkehren konnte. Die während der Corona-Krise eingesetzten technologischen Hilfsmittel gehören zwar nunmehr zu unserem alltäglichen Arbeitsumfeld, es war aber auch unerlässlich, die beiden Gerichte wieder zu echtem Leben zu erwecken, mit unmittelbarem Austausch und spontaner Interaktion vor Ort, die so wichtig sind für ein effizientes Arbeiten.
Der 70. Jahrestag des Gerichtshofs der Europäischen Union, der unter dem Motto „Eine bürgernahe Justiz“ stand, wurde mit einer Reihe von Veranstaltungen gefeiert, wie z. B. einem speziellen Tag der offenen Tür am 8. Oktober 2022 und dem außerordentlichen Richterforum vom 4. bis zum 6. Dezember 2022, dessen Höhepunkt eine feierliche Sitzung in Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit des Erbgroßherzogs von Luxemburg sowie hochrangiger Vertreter der europäischen Institutionen und des Gastlands, der Justiz und der Diplomatie bildete, aber auch mit der Veröffentlichung eines Jubiläumsbands, der Ausgabe einer Sonderbriefmarke durch die luxemburgische Post, der Ausstrahlung eines Films über die Geschichte des Gerichtshofs und der Neubenennung einiger seiner Gebäude mit Namen führender Persönlichkeiten der Justizgeschichte.
2022 war aber nicht nur der 70. Jahrestag des Unionsorgans, sondern auch ein „Jahrestag“ wichtiger Meilensteine des europäischen Aufbauwerks: 30 Jahre Vertrag von Maastricht, dem die ausdrückliche Bezugnahme in den Gründungsverträgen der Europäischen Union auf die demokratischen Werte, darunter die Rechtsstaatlichkeit, zu verdanken ist, 25 Jahre Vertrag von Amsterdam, mit dem die „Gemeinschaftsmethode“, insbesondere die Zuständigkeit des Gerichtshofs, auf den Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erweitert wurde, und 20 Jahre Einführung des Euro.
All diese Feierlichkeiten dürfen allerdings nicht über die tatsächlichen Gegebenheiten hinwegtäuschen, mit denen wir uns konfrontiert sehen.
Auf die Gesundheitskrise folgte leider Ende Februar 2022 der Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Bilder von Opfern und Zerstörungen, die uns erschaudern lassen und die wir auf dem europäischen Kontinent nie wieder zu sehen hofften, erinnern uns daran, dass Frieden und Freiheit Werte sind, die keineswegs für immer und ewig gesichert sind, so „selbstverständlich“ sie für diejenigen, die dem europäischen Projekt dienen, auch erscheinen mögen.
Die Legitimität der Europäischen Union und ihrer Organe wird regelmäßig von euroskeptischen oder populistischen Strömungen in Frage gestellt. Auch die demokratischen Werte, die die eigentliche Grundlage des europäischen Projekts bilden, werden immer wieder angegriffen. In einer Europäischen Union, der im Zuge der Vertragsrevisionen neue Zuständigkeitsbereiche übertragen wurden, hat das Unionsorgan immer öfter Entscheidungen zu sensiblen Themen zu erlassen. Ob es sich um den Schutz rechtsstaatlicher Werte oder der Umwelt, den Kampf gegen Diskriminierung, den Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten, die Einhaltung der Wettbewerbsregeln durch die mächtigen Internetunternehmen, den Schutz der Verbraucher oder die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von restriktiven Maßnahmen handelt, die als Reaktion auf schwere Verletzungen der Menschenrechte oder des Völkerrechts ergriffen wurden – die Entscheidungen des Gerichtshofs und des Gerichts betreffen unmittelbar die großen Fragen unserer Zeit.
In einem geopolitischen Kontext, in dem die Fundamente unserer demokratischen Gesellschaften immer häufiger angegriffen werden, sind angesichts der Auswirkungen dieser Entscheidungen besondere Anstrengungen im Bereich der Kommunikation und Pädagogik nötig, um Missverständnissen und Fehlinformationen vorzubeugen, aber auch um zu gewährleisten, dass die europäische Rechtsprechung korrekt in die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen integriert wird.
Statistisch gesehen ist die Zahl der 2022 bei den beiden Gerichten anhängig gemachten Rechtssachen mit der des Vorjahrs vergleichbar (1 710 im Jahr 2022 gegenüber 1 720 im Jahr 2021). Die Zahl der vom Gerichtshof und vom Gericht erledigten Rechtssachen ist dagegen leicht zurückgegangen (1 666 im Jahr 2022 gegenüber 1 723 im Jahr 2021). Dies bedeutet, dass die Zahl der anhängigen Rechtssachen leicht gestiegen ist (2 585 im Jahr 2022 gegenüber 2 541 im Jahr 2021).
Beim Gerichtshof ist die Zahl der neu anhängig gemachten Rechtssachen im Vergleich zum Vorjahr zwar leicht gesunken (806 im Jahr 2022 gegenüber 838 im Jahr 2021), bleibt aber auch in diesem Jahr hoch, insbesondere bei den Vorabentscheidungssachen. Außerdem werfen immer mehr vor den Gerichtshof gebrachte Streitigkeiten sensible und komplexe Fragen auf, die mehr Beratungs- und Zeitaufwand erfordern.
Um sich in diesem Kontext seine Fähigkeit zu bewahren, Entscheidungen von hoher Qualität binnen angemessener Frist zu erlassen, hat der Gerichtshof von der durch die Verträge eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht und am 30. November 2022 einen Antrag an den Unionsgesetzgeber gerichtet, der darauf abzielt, dem Gericht die Zuständigkeit für Vorabentscheidungssachen in bestimmten Sachgebieten zu übertragen und den Mechanismus der vorherigen Zulassung der Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts auszuweiten.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um meinen Kollegen und dem gesamten Personal des Gerichtshofs der Europäischen Union für ihre vortreffliche Arbeit im vergangenen Jahr zu danken, ohne die die zahlreichen Projekte dieses Jahres nicht hätten durchgeführt werden können.
Koen Lenaerts
Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union
